Lornheim - Die Ankerwelt
"Ein Anker, Lornheim ist ein Anker, noch jedenfalls", sagte Marduk. "In desolatem Zustand, aber immerhin derzeit stabilisiert durch eine bemerkenswerte Stütze - die Welt Mornheim. Dennoch, es muss andere Möglichkeiten geben, eine andere Welt, die bald Lornheims Platz einnimmt."
"Und wenn Leitner Erfolg hat?", fragte Kralin ruhig. "Viele Dinge klären sich von selbst, ganz ohne unsere Einflussnahme."
Marduk schnaubte. "Wenn Leitner Erfolg hat? Mit seinem physikalischen Geniestreich, der der Etablierung eines neuen Naturgesetzes gleichkommt? Meinst du das ernst?"
"Vielleicht gelingt es Ambrosius auch mit seiner Kirche, an Gottes Tore zu klopfen", meinte Kralin.
"Und dann macht Gott auf und alles wird gut?" Marduk legte seine Feder beiseite. "Es kann vieles geschehen. Aber wir sollten schlichtweg noch mehr Möglichkeiten schaffen - nur für alle Fälle."
Kralin stand langsam auf. "Na dann. Auf zur Portbrücke."
​​Lornheim war ein verregneter Ort mit einer schmucken Innenstadt, deren historistische und vom Jugendstil geprägte Gebäude eine Mischung aus Erhabenheit und Heimeligkeit erschufen. Besonders die großen Kaufhäuser am Ludwigsplatz und auf der über den Fluss Sobek führenden Krämerbrücke versetzten einen jeden Bewohner oder Besucher zurück in eine längst vergangene Zeit. Aber trotz der sich stur erhaltenden, archaischen Architektur spannten zwischen Reichfeld&Horner und Gorianth auch Firmen wie Silverlite und Sensus ihre Zelte auf – besser gesagt ihre Hightech-Tempel. Diese verströmten mit ihrer Mischung aus bläulichem und orangenem Licht eine gewisse Syfy-Atmosphäre, die neben den grau-braunen Konsumkolossen, aus deren Fenstern warmes Licht auf den Bürgersteig fiel, seltsam deplatziert wirkte – aber natürlich in höchstem Maße kosmopolitisch. Dieser Art waren natürlich auch die Bewohner Lornheims, deren Toleranz ihnen aus sämtlichen Poren drang. Als ethnisch diverse Menschen und religiös auf die Großen Philosophen schwörende Realisten blickten sie aus ihrer Sicht einer strahlenden, prosperierenden Zukunft entgegen. Lornheim war auch eine Stadt der Märkte. Wo immer ein Quäntchen Platz war, tummelten sich neben Straßenmusikern und Zeitungsverkäufern auch emsige Marktleute, die aus mal kleinen, mal größeren Ständen heraus ihre Waren feilboten. Mit Fug und Recht konnte die Behauptung aufgestellt werden, dass in Lornheim an jeder Ecke mindestens eine Kuriosität zu ergattern war. Zumal dies auch in einer passenden, zwielichtig bis mystisch erscheinenden Atmosphäre möglich war, denn an mancher Stelle wartete das Vergnügen des völligen Eintauchens in eine frühneuzeitliche Marktwarenwelt auf den geneigten Besucher: Am Anger beispielsweise drubbelten sich ein Dutzend Marktstände neben – und durcheinander, sodass verschluckt wurde, wer immer auch einen Fuß in diese altertümlich anmutende Welt setzte. Beschienen von diffusem, wie Kerzenschein wirkendem Licht bewegte man sich von Zelt zu Zelt, von Auslage zu Auslage und staunte nicht schlecht ob des Konglomerats aus fernöstlicher, nahöstlicher – und mitteleuropäischer Prägung.